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Neue Industriestrategie - Industriepolitik in der Zeitenwende
Einleitung
Stärken und Charakteristika der Industrie
Deutschland ist ein starkes Industrieland im Herzen der EU und kann dabei auf eine lange Erfolgsgeschichte zurückblicken. Diese Stärke liegt zuallererst in den vielen innovativen und produktiven Unternehmen selbst sowie der Leistung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begründet. Dabei zeichnet sich die deutsche Industrie durch eine große Vielfalt aus: Neben einigen wenigen Großunternehmen zählen 90 Prozent der Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe zu den kleinen und mittleren Unternehmen, die häufig in langer Familientradition geführt sind und sich oft als Hidden Champions auf dem Weltmarkt behaupten. Die Industrie ist außerdem ein Teil der sozialen und kulturellen Identität Deutschlands und tief in Lebensformen und Arbeitsbiographien eingeschrieben, was sich auch in einer Kultur der Mitbestimmung und der Sozialpartnerschaften zeigt.
Neben diesen Besonderheiten sind zwei weitere Strukturmerkmale zentral für die deutsche Industrie: erstens, die hohe Bedeutung internationaler Wertschöpfungsverflechtungen. Unterschiedliche Produktionsstufen sind häufig über Wirtschaftszweige und Ländergrenzen verteilt, was dazu führt, dass große Unternehmen und kleine Unternehmen des Mittelstands eng miteinander verknüpft sind und gemeinsam am gleichen Endprodukt arbeiten. Und zweitens, die starke Innovationstätigkeit, durch die sich die deutsche Industrie auszeichnet. Dies zeigt sich beispielsweise im hohen Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) am Bruttoinlandsprodukt (BIP), der im Jahr 2021 in Deutschland bei 3,13 Prozent lag und einen besonders hohen „FuE-Fußabdruck“ der Industrie aufwies. Auch in Bezug auf Patentanmeldungen gehört Deutschland international zu den Spitzenreitern.
Der Anteil der Industrie an der deutschen Bruttowertschöpfung liegt weiterhin bei gut einem Fünftel (2022: 20,4 Prozent), was im Vergleich zu anderen Ländern recht hoch ist. Zudem weist die Industrie eine um etwa 20 Prozent höhere Arbeitsproduktivität auf als der gesamtwirtschaftliche Durchschnitt. Auch vom Schock der Corona-Pandemie im Jahr 2020, der einen starken Rückgang der Industrieproduktion auslöste, konnte sich die Industrie recht zügig erholen – trotz Lieferengpässen, Fachkräftemangel und hoher Energiepreise. Zwar ist der Anteil der energieintensiven Industrie an der Industrieproduktion nach den Verwerfungen auf den Energiemärkten infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine deutlich zurückgegangen, der Anteil der übrigen Branchen veränderte sich hingegen kaum und zeigt sich somit bemerkenswert resilient.
Aktuelle Herausforderungen der Industrie
Dennoch steht bei allen Stärken das Industrieland Deutschland heute vor großen, strukturellen Herausforderungen:
Geopolitische Zeitenwende: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Mit den anhaltend höheren Energiepreisen hat diese Zeitenwende bereits sehr handfeste Auswirkungen auf unsere Industrie. Doch sie sind nur der aktuellste Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung der internationalen geopolitischen und ökonomischen Wirklichkeit. Die letzten drei Jahrzehnte waren bestimmt von einer marktdominierten, aber zugleich regelgeprägten Globalisierung. In den letzten Jahren sind jedoch geopolitische und geoökonomische Konflikte mit voller Wucht in die Wirtschaftspolitik zurückgekehrt. Handels-, Technologie- und Industriepolitik sind Instrumente in dieser Auseinandersetzung.
Vernachlässigte Standortfaktoren: Die Standortbedingungen haben sich verschlechtert, auch weil über lange Zeit notwendige Reformen und Investitionen ausgeblieben sind: Der Ausbau der Erneuerbaren Energien wurde nicht entschieden genug vorangetrieben, die Infrastruktur nicht ausreichend erneuert, gefährliche wirtschaftliche Abhängigkeiten sind entstanden, die Bürokratie ist in vielen Bereichen ausgeufert, der Fachkräftemangel wurde nicht entschieden angegangen.
Transformation hin zur Klimaneutralität: Die Klimakrise verpflichtet zu entschiedenem Handeln. Die Transformation zur Klimaneutralität und die damit verbundene Erneuerung unseres Wohlstandes bieten mittel- und langfristige Chancen, erfordern im Übergang aber auch große Anstrengungen und Kosten für die Industrie und ihre Beschäftigten.
Viele Unternehmen gehen diese Herausforderungen bereits an; sie diversifizieren ihre Lieferketten, investieren in Erneuerbare Energien und transformieren ihre Herstellungsprozesse. Aber die Herausforderungen erfordern auch politische Antworten, um die Industrieunternehmen bei den notwendigen Veränderungsprozessen zu unterstützen. Die Sicherung des Industriestandorts verlangt einen klaren Kurs in Form einer strategischen Industriepolitik.
Neue Industriestrategie des BMWK begründet zentrale Handlungsfelder
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat vor den beschriebenen Herausforderungen im Oktober unter dem Titel „Industriepolitik in der Zeitenwende: Industriestandort sichern, Wohlstand erneuern, Wirtschaftssicherheit stärken“ eine neue Industriestrategie veröffentlicht. Die Strategie gibt eine umfassende Begründung der Industriepolitik der Bundesregierung in zentralen Handlungsfeldern und identifiziert zusätzliche Handlungsbedarfe. Dabei orientiert sich die Strategie an einem klaren Leitbild: Deutschland soll als starker Industriestandort inklusive Grundstoffindustrie in Zeiten der Umbrüche bewahrt bleiben und gleichzeitig wichtiger Standort für Zukunftsindustrien – von Halbleitern bis Transformationstechnologien – werden. Neben der Transformation zur Klimaneutralität und damit verbundener Erneuerung von Wohlstand und Wohlstandsteilhabe ist Ziel der Strategie auch die Stärkung der deutschen und europäischen Wirtschaftssicherheit unter den Bedingungen von Zeitenwende und Klimakrise.
Um diese Ziele zu erreichen, definiert die Industriestrategie konkrete strategische Ansätze, nach denen die Industriepolitik des BMWK geleitet sein soll. Als ersten Punkt bekennt sich die Strategie zu einer europäischen Ausrichtung und sieht die Europäische Union als den Rahmen für das industriepolitische Handeln in Deutschland. Der europäische Green Deal und die europäische Industriestrategie bieten dabei den strategischen Überbau, da eine Vielzahl von europäischen Instrumenten wie der EU Chips Act die von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten Maßnahmen überhaupt erst möglich machten. Umgekehrt sieht die Strategie den Erhalt des deutschen Industriestandorts als einen wesentlichen Beitrag dazu, die industrielle Basis in Europa zu sichern.
Einen weiteren Kernpunkt des strategischen Ansatzes der deutschen Industriepolitik in der Zeitenwende sieht die Industriestrategie in einer Stärkung der Standortbedingungen. Das Hauptaugenmerk der Industriepolitik des BMWK liegt demnach auf einer transformativen Angebotspolitik. Denn in einer Zeit, die durch ein sinkendes Angebot fossiler Energie, zunehmende Ressourcenknappheit und Fachkräftemangel geprägt ist, soll der Staat mit einer solchen Politik den bestehenden Knappheiten entgegenwirken oder zumindest dafür sorgen, dass diese sich nicht weiter verschärfen. Zu einer transformativen Angebotspolitik gehört in diesem Sinne insbesondere die Sicherstellung der Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen, eine moderne Infrastruktur, eine effiziente Verwaltung mit schnellen Prozessen und die Verfügbarkeit von gut ausgebildeten Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere durch qualitativ hochwertige Bildungsangebote und Einwanderung.
In jedem dieser Felder hat die Bundesregierung bereits erhebliche Anstrengungen unternommen. Wichtige Schritte sind aber noch zu gehen – insbesondere bei der Energiewende und der Sicherstellung langfristig wettbewerbsfähiger Strompreise, bei der weiteren Planungsbeschleunigung und Entbürokratisierung und bei der konkreten Umsetzung der Fachkräfteeinwanderung. Die weitere Verbesserung der Angebotsbedingungen muss entsprechend dieser strategischen Grundlage den Schwerpunkt der zweiten Halbzeit der Bundesregierung bilden. Einen großen Fortschritt in diese Richtung hat die Bundesregierung bereits am 9. November 2023 erreicht, nur wenige Wochen nach dem Erscheinen der neuen Industriestrategie des BMWK. In Form eines Strompreispakets verständigte sich die Bundesregierung auf zusätzliche Entlastungen für Unternehmen des Produzierenden Gewerbes in Deutschland über den Zeitraum der nächsten fünf Jahre, beispielsweise durch die massive Absenkung der Stromsteuer auf den EU-rechtlichen Mindestsatz für das Produzierende Gewerbe.
Neben dem Fokus auf eine Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln begründet die neue Industriestrategie des BMWK in bestimmten, klar definierten Fällen zudem die gezielte finanzielle Unterstützung und Förderung von Unternehmen und Branchen. Dabei weist die Strategie klar auf die Risiken von Industriepolitik und einer aktiven Rolle des Staates – über das Setzen von Rahmenbedingungen hinaus – hin. Industrieförderung impliziert notwendigerweise eine politische Auswahl, die anfällig für Lobbyismus ist; der Erfolg ist nicht garantiert. Ökonomisch begründen lässt sich eine aktive staatliche Förderpolitik dennoch, wenn ein Marktversagen vorliegt und nur mit Hilfe staatlicher Förderung Innovationen zur Marktgängigkeit verholfen werden kann. Zudem ist Wirtschaftssicherheit angesichts der veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen eine neue Priorität der Industrie- und Wirtschaftspolitik. Auch muss die Industrie vor unfairem Wettbewerb geschützt und die Umstellung auf klimafreundliche Produktionstechnologien ermöglicht werden. Eine aktive Unternehmensförderpolitik ist auch mit dem Übergang zur Klimaneutralität und dem Wechsel zu Erneuerbaren Energien zu begründen. Diese Übergangsphase zu glätten, um Unternehmen, die hier dauerhaft wettbewerbsfähig produzieren könnten, zu halten, ist ökonomisch wie politisch gut begründet.
Bei der Gestaltung der Förderprogramme definiert die Strategie verschiedene Grundsätze, von denen sich die deutsche Industriepolitik in der Praxis ableitet. Dazu gehört, dass Kredite, Bürgschaften oder rückzahlbare Zuschüsse, wenn möglich, Vorrang vor nicht-rückzahlbaren Subventionen haben sollten. Zudem solle das Fördersystem kohärent sein und regelmäßig einer wissenschaftlichen Erfolgskontrolle unterzogen werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist eine Exit-Strategie für jede Förderung, um ungewollte Dauersubventionen zu vermeiden. Auch soll mit Verbündeten auf engere Absprachen im Hinblick auf die Gewährung von finanzieller Förderung hingearbeitet werden und damit teure Subventionswettläufe möglichst eingedämmt werden.
Erfolgreiche Industriekonferenz als erster Meilenstein
Die Industriestrategie des BMWK ist ein Beitrag dazu, die Industriepolitik der Bundesregierung zu erklären und ihren größeren strategischen Zusammenhang sowie ihre Einbettung in die Soziale Marktwirtschaft zu beschreiben. Sie ist zugleich ein Impuls zur Zukunft des Industriestandorts. Erster Meilenstein in dieser Debatte war die Industriekonferenz des BMWK am 31. Oktober 2023, auf der die Strategie breit im Bündnis Zukunft der Industrie mit Verbänden und Gewerkschaften sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Politik aus Deutschland, Europa und unserer Verbündeten weltweit diskutiert worden ist.
Kontakt & mehr zum Thema
Referat: Grundsatzfragen der Industriepolitik; Bündnis Zukunft der Industrie