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Roadmap Systemstabilität
Der Fahrplan für einen sicheren und robusten Stromnetzbetrieb mit 100 % Erneuerbaren Energien
Einleitung
Unser Stromsystem wandelt sich grundleged: Strom wird zunehmend durch Erneuerbaren Energien (EE) erzeugt und das Stromnetz wird von immer mehr neuen elektrischen Verbrauchern wie Elektroautos, Wärmepumpen und Elektrolyseanlagen genutzt. Auf dem Weg zum klimaneutralen Stromsystem wird der Stromnetzbetrieb zunehmend häufiger vollständig auf Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien beruhen. Die Roadmap Systemstabilität zeigt einen Fahrplan zur Erreichung eines sicheren und robusten Systembetriebs mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien auf. Sie ist im Koalitionsvertrag 2021 verankert. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat die Roadmap zusammen mit der Bundesnetzagentur (BNetzA) und unter aktiver Mitwirkung der Branchen (Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber (UNB, VNB), Anlagenhersteller, Verbände, Normungsgremien, Wissenschaft) erstellt; die ef.Ruhr GmbH und die Deutsche Energieagentur (dena) haben unterstützt. Insgesamt waren am Roadmap-Prozess über 150 Personen aus mehr als 80 Institutionen beteiligt. Am 6. Dezember 2023 wurde sie von der Bundesregierung beschlossen.
Tiefgreifender Wandel des Stromsystems
Die Veränderung der Struktur des Stromsystems stellt einen tiefgreifenden Systemwandel dar. Davon sind auch Systemdienstleistungen sowie weitere erforderliche Maßnahmen zur Gewährleistung der Systemstabilität für einen sicheren Betrieb des Stromnetzes betroffen. So werden zum Beispiel durch das Ausscheiden der konventionellen, fossil betriebenen Kraftwerke auch deren inhärente stabilisierende Eigenschaften nicht mehr verfügbar sein. Ein Beispiel hierfür ist die so genannte „Momentanreserve“. Hierbei handelt es sich um eine sehr kurzfristig verfügbare Leistungsreserve, die in konventionellen Kraftwerken durch die physikalischen Eigenschaften rotierender Massen („Schwungräder“) von Synchrongeneratoren und Turbinen entsteht: Wird ein Schwungrad in Rotation versetzt, hält diese auch nach dem Stopp der Energiezufuhr – zum Beispiel durch einen kurzfristigen Leistungsausfall – eine Weile an, und kann diesen kurzfristigen Leistungsausfall somit teilweise ausgleichen. Diese und weitere stabilisierende Eigenschaften müssen daher zukünftig anders erbracht werden. Besonders eignen sich hierfür so genannte netzbildende Stromrichter von Erneuerbaren Energien oder Batteriespeichern, die neben der üblichen Stromumwandlung (beispielsweise von Gleichstrom einer Solaranlage zu Wechselstrom zur Einspeisung in das Stromnetz) genau wie Synchrongeneratoren das Netz stabilisieren können. Die Stromrichter werden dafür entsprechend gebaut und haben dann ein automatisches stabilisierendes Spannungsverhalten wie konventionelle Kraftwerke.
Den aus diesem Systemwandel resultierenden Herausforderungen und der übergeordneten Frage, wie ein sicherer und robuster Betrieb des Stromsystems auch mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien möglich ist, widmet sich die vorliegende Roadmap Systemstabilität. Sie zeigt auf prozessualer Ebene, welche Schritte für einen weiterhin stabilen Betrieb des Stromnetzes eingeleitet werden müssen, wann diese stattfinden sollen und welche Akteure jeweils prozessverantwortlich sind. Sie beantwortet also die Frage: „Wer macht was wann?“. Dabei wird zwischen der Rolle der Prozesskoordinatoren und den bei der Umsetzung beteiligten Akteuren differenziert. Die Rolle der Prozesskoordinatoren kommt dabei überwiegend dem „Forum Netztechnik/Netzbetrieb“ (FNN) des Verbands der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V. (VDE) als technischem Regelsetzer sowie den VNB und ÜNB, der BNetzA und dem BMWK zu. An der Umsetzung beteiligte Institutionen sind unter anderem Anlagenhersteller, Verbände, Normungsgremien und Akteure aus der Wissenschaft. Für jeden Prozess zeigt die Roadmap Systemstabilität ebenfalls die erwartete Prozessdauer sowie etwaige Interdependenzen mit anderen Prozessen an.
Gemeinsames Zielbild als Ausgangspunkt
Als Grundlage für die Roadmap wurde zunächst ein gemeinsames Zielbild hinsichtlich der Funktionen des zukünftigen Stromversorgungssystems entwickelt. Dieses beschreibt generisch das zukünftige Stromversorgungssystem bzw. die Herausforderungen für einen sicheren und robusten Netzbetrieb mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien. Eine kompakte und vereinfachte Darstellung des Zielbildes ist in Abbildung 1 zu sehen.
Bei den Herausforderungen fallen insbesondere zwei Veränderungen im Vergleich zum heutigen System ins Gewicht:
Die Systemstabilität wird zukünftig neben den Beiträgen aus dem Übertragungsnetz (zum Beispiel große Windparks oder Netzbetriebsmittel der ÜNB) auch maßgeblich von den Eigenschaften von Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen bestimmt werden, die im Verteilnetz angeschlossen sind (zum Beispiel PV-Anlagen und E-Mobilität).
Diese vor allem stromrichterbasierten Anlagen ersetzen die stabilisierenden Eigenschaften der bisherigen konventionellen Kraftwerke.
51 Prozesse führen zum Ziel
Auf Grundlage des Zielbildes haben Fachexpertinnen und Fachexperten in Arbeitsgruppen relevante Fragestellungen und korrespondierende Handlungsbedarfe identifiziert. Daraus wurden Prozesse abgeleitet, die auf dem Weg zum sicheren und robusten Systembetrieb mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien angepasst oder neu etabliert werden müssen. In den Arbeitsgruppen wurden auch vier Themenpapiere erarbeitet, die den Diskussionsstand der Arbeitsgruppen als Vorbereitung zur Erstellung der Roadmap enthalten.
Die insgesamt 51 identifizierten Prozesse bilden den Kern der Roadmap Systemstabilität. Diese untergliedern sich in 41 Stabilitätsprozesse spezifisch zu den Themen „Frequenz“, „Spannung“, „Resonanzstabilität“, „Kurzschlussstrom“, „Winkelstabilität“ und „Betriebsführung und Netz- und Versorgungswiederaufbau“ sowie zehn „verbindende“ Prozesse, die themenfeld- und institutionenübergreifende Anpassungen, Weiterentwicklungen oder Festlegungen adressieren. Ein vom VDE FNN zu koordinierender Prozess im Bereich „Frequenz“ betrifft beispielsweise die Definition der technischen Spezifikationen für eine zukünftige Momentanreserve, bei der ebenfalls entsprechende Mess- und Prüfverfahren als Ziel angegeben sind.
Konkrete Meilensteine und Pfade für die Umsetzung
Für die Umsetzung der Roadmap Systemstabilität wurden 18 zentrale Meilensteine identifiziert (Abbildung 2), welche weitgehend im Zeitraum 2024 bis 2030 zu erreichen sind und drei zentralen Pfaden zugeordnet werden können, die aufgrund des Zeitdrucks teilweise parallel bearbeitet werden.
Erster Pfad – Definition des Sicherheitsniveaus und Bestimmung der Systembedarfe: Es gilt, das angestrebte Sicherheitsniveau für jene Bereiche des Stromversorgungssystems festzulegen, wo dies noch nicht erfolgt ist. Darauf aufbauend können dann so genannte auslegungsrelevante Fälle definiert werden. Auslegungsrelevante Fälle beschreiben planbare und nicht planbare Ereignisse, mit denen das System konfrontiert werden kann und die es zu beherrschen gilt, beispielsweise starke Frequenzanstiege oder -abfälle nach Auftrennung des Verbundnetzes in Teilnetze im Falle einer Störung. Die Beschränkung von Vorgaben auf solche Referenzfälle ist notwendig, da es weder technisch möglich noch wirtschaftlich sinnvoll ist, alle denkbaren Ereignisse abzusichern. Auf Basis der definierten auslegungsrelevanten Fälle können im nächsten Schritt die Bedarfe an einzelnen Systemdienstleistungen bestimmt werden.
Zweiter Pfad – Deckung der Systembedarfe: Die Deckung und strukturierte Beschaffung der Systembedarfe stellen den zweiten zentralen Pfad dar. Hierzu sind geeignete Beschaffungsverfahren einzuführen und technische Anschlussregeln und Regelwerke zu ergänzen und zu verabschieden. Auch Netzbetriebsmittel wie beispielsweise Konverterstationen für Hochleistungsgleichstromübertragung können und sollen zur Bedarfsdeckung beitragen. Wesentliche Voraussetzung für ein Gelingen ist der weitere Ausbau des Informations- und Datenaustausches zwischen Netzbetreibern und Erzeugungs- beziehungsweise Verbrauchsanlagen sowie zwischen Netzbetreibern untereinander. Dies erfordert eine umfassende Prozessdigitalisierung sowie einheitliche Datenräume
Dritter Pfad – Etablierung von netzbildenden Stromrichtern: Der dritte zentrale Pfad gilt der Etablierung netzbildender Stromrichter in den Übertragungs- und Verteilnetzen. Wie oben erläutert stellen netzbildende Stromrichter eine Schlüsseltechnologie zur Wahrung der Systemstabilität im Zielsystem dar. Es fehlen jedoch noch Erfahrungen mit deren flächendeckendem Einsatz. Diese müssen in Pilotversuchen gesammelt und die technischen Anforderungen definiert werden. Des Weiteren sind technische Anschlussregeln (differenziert nach Spannungsebenen beziehungsweise Leistungsklassen) für netzbildende Stromrichter zu erstellen. Über diesen Weg wird sichergestellt, dass das Potenzial der netzbildenden Stromrichter (zum Beispiel zur Erbringung der Momentanreserve) sicher und zweckdienlich für einen signifikanten Beitrag zur Systemstabilität genutzt werden kann.
Ausblick
Deutschland befindet sich mitten in der Umsetzung der Energiewende. Diese Veränderung auf Erzeugungs- und Verbrauchsseite hat auch Einfluss auf den Betrieb des Stromnetzes. Die Roadmap Systemstabilität markiert den Startpunkt der Transformation im Bereich Systemstabilität. Sie soll dafür sorgen, dass alle notwendigen Prozesse umgesetzt werden, sodass auch in Zukunft die Systemstabilität und damit die Versorgungssicherheit gewahrt bleiben. Der Handlungsdruck ist dabei hoch und macht eine Parallelisierung der Prozesse erforderlich. Die Umsetzung muss deshalb koordiniert erfolgen und erfordert ein hohes Engagement aller Stakeholder. Hierfür wird das BMWK ein „Forum Systemstabilität“ schaffen. Es soll einerseits als Austauschplattform für die Akteure dienen, die für die Umsetzung der verschiedenen Roadmap-Prozesse verantwort- lich sind, und andererseits das Monitoring der Umsetzung von Maßnahmen/Prozessen und die Identifikation eventueller Nachsteuerungsbedarfe erleichtern. Auch mögliche Unklarheiten oder Konflikte sollen so frühzeitig antizipiert und gelöst werden. Das BMWK wird gemeinsam mit der BNetzA die Umsetzung der Roadmap begleiten und bei Bedarf unterstützen, um eventuell auftretenden Verzögerungen entgegenzuwirken. Auch für diesen Begleitprozess ist ein zielgerichtetes Monitoring geplant.