Titelbild zum Artikel "Nowcasting 2.0: Näher an der Zukunft mit hochfrequenten Konjunkturdaten"

Für die Analyse und Projektion der kurzfristigen Konjunkturentwicklung sind ökonometrische Prognosemodelle ein wichtiges Hilfsmittel.1 Das BMWK nutzt seit 2018 einen Nowcast, der tagesaktuelle, „technische“ Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung im laufenden Quartal sowie im folgenden Quartal auf Basis von Big-Data-Analysen liefert. Jetzt wurde das Modell um hochfrequente – d.h. in diesem Fall täglich oder wöchentlich verfügbare – Daten erweitert, um die Prognose so noch genauer zu machen.

Wofür werden Nowcast-Modelle gebraucht?

Die Wirtschaftspolitik benötigt – insbesondere in Krisenzeiten – zeitnahe und präzise Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung, um gegebenenfalls frühzeitig Maßnahmen zur konjunkturellen Stabilisierung einleiten zu können. Hierfür müssten Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger idealerweise auf Echtzeitdaten über die wirtschaftliche Lage und die zu erwartende Entwicklung zurückgreifen können. Dies ist allerdings in den seltensten Fällen realistisch möglich. Beispielsweise werden Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) vierteljährlich vom Statistischen Bundesamt ausgewiesen und mit einer Verzögerung von mehreren Monaten veröffentlicht: Erste amtliche Daten zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) stehen erst 30 Tage nach Ablauf des Referenzquartals zur Verfügung. Details zu den Verwendungskomponenten des BIP, zum Beispiel dem Privaten Konsum oder Investitionen, werden erst nach etwa 55 Tagen veröffentlicht. Konkret bedeutet das: Für das laufende zweite Quartal, das am 1. April beginnt und mit dem 30. Juni endet, steht die Schnellschätzung zum BIP erst am 30. Juli zur Verfügung, erste Daten zu den Verwendungskomponenten am 27. August.

Allerdings existiert eine Vielzahl an Konjunkturindikatoren, die deutlich vor den Quartalsdaten der VGR vorliegen und somit früher Signale über die ökonomische Entwicklung senden. Dazu gehören zum Beispiel die monatlichen Statistiken zu den Auftragseingängen im Verarbeitenden Gewerbe oder zur Produktion im Produzierenden Gewerbe sowie Umfrageergebnisse zur Stimmung in der Wirtschaft und bei Verbraucherinnen und Verbrauchern.

Solche Informationen, die bereits vor Veröffentlichung der VGR-Ergebnisse zur Verfügung stehen, können während des laufenden Quartals und in den Wochen bis zur Veröffentlichung der Quartalsergebnisse zur Fortschreibung der Entwicklung des BIP genutzt werden. Diese Art der Fortschreibung, der sogenannte Nowcast, spielt in der Konjunkturforschung und -prognose eine wichtige Rolle.2

Die Ergebnisse unseres Nowcast veröffentlichen wir regelmäßig im Konjunkturteil der Schlaglichter der Wirtschaftspolitik – so auch in dieser Ausgabe.

Wie funktioniert das Nowcast-Modell des BMWK?

Die bisher verwendete Version des Nowcast-Modells wurde in Kooperation zwischen dem BMWK und der Firma Now-Casting Economics Ltd. entwickelt. Diesem Nowcast liegt ein ökonometrisches Faktormodell zugrunde. Das Modell kann Zeitreihen mit unterschiedlicher Frequenz und mit unterschiedlichem Veröffentlichungsstand kombinieren und verarbeiten. Zudem ist es in der Lage, Informationen aus einer Vielzahl von ökonomischen Indikatoren zu einer kleinen Anzahl gemeinsamer Faktoren zu verdichten. Ein solches Verfahren bietet sich für Prognosezwecke besonders an, da viele makroökonomische Zeitreihen über den Konjunkturzyklus stark miteinander korrelieren, was zu Verzerrungen des Schätzergebnisses führen kann. Faktormodelle extrahieren aus der Vielzahl von Zeitreihen gemeinsame Signale, die über den konjunkturellen Verlauf Auskunft geben. Bei der Entwicklung des BMWK-Nowcast hat sich gezeigt, dass zwei Faktoren zur Erklärung des BIP nötig sind. Der erste Faktor spiegelt dabei überwiegend Informationen aus den „harten“ Indikatoren der amtlichen Statistik wie etwa zu Produktion und Umsätzen wider. Der zweite Faktor kondensiert hingegen vor allem umfragebasierte Stimmungsindikatoren wie etwa das ifo Geschäftsklima, das GfK-Konsumklima oder die ZEW-Konjunkturerwartungen.

Neben den tatsächlich realisierten Ist-Werten fließen in den Nowcast für das BIP auch Prognosen für alle Konjunkturindikatoren als erklärende Variablen in das Modell ein. Somit können Rückschlüsse auf die Ursachen für Veränderungen der BIP-Prognosen gezogen werden: Wird ein neuer Datenpunkt veröffentlicht, ändert sich der Nowcast nur dann, wenn der veröffentlichte Wert vom prognostizierten Indikatorwert abweicht, also tatsächlich Neuigkeiten aus Sicht des Modells vorliegen. Diese Neuigkeiten werden dann entsprechend ihrem Einfluss auf die BIP-Entwicklung gewichtet und führen zu einer Änderung der Punktprognose für das BIP.

Mit jedem Veröffentlichungszeitpunkt eines neuen Konjunkturindikators wird der Nowcast für das laufende und das kommende Quartal aktualisiert. Somit sind stets alle zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Informationen in der Prognose enthalten. Theoretisch sollte der Nowcast somit im Zeitverlauf an Präzision gewinnen und sich sukzessive dem „wahren“ BIP-Wachstum annähern.

Mit der Veröffentlichung eines neuen Datenpunktes ändern sich häufig auch dessen vergangenen Werte. Grund dafür sind Datenrevisionen. Das vom BMWK verwendete Modell berücksichtigt diese Revisionen und weist deren Effekt auf die Änderung des Nowcast gesondert aus.

Mehr Genauigkeit durch höhere Frequenz

Das bisherige Modell wurde gegen mehrere alternative Spezifikationen und existierende Nowcasts anderer Institutionen getestet. Dabei hat sich die Prognosegüte als sehr hoch erwiesen.

Dennoch bestand Anpassungsbedarf: Aufgrund der Ausnahmesituationen der vergangenen Jahre (Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiepreiskrise) ist der statistische Zusammenhang zwischen den einschlägigen Konjunkturindikatoren und dem Wirtschaftsverlauf nachhaltig stark beeinträchtigt. Zur Verbesserung der Prognosegenauigkeit wurde das Modell deshalb um neue, hochfrequente Indikatoren erweitert.

Im Ergebnis weist das neue Modell einen deutlich geringeren Prognosefehler auf als der Nowcast 1.0. Abbildung 1 veranschaulicht dieses Ergebnis. Dargestellt wird darin der durchschnittliche Prognosefehler, gemessen als Wurzel der mittleren Fehlerquadratsumme (Root Mean Square Error), in Relation zum zeitlichen Abstand zum jeweiligen Quartal. Dabei markiert t = 0 den Beginn des Quartals; um die Marke t = 90 endet das Quartal und um den Termin t =125 herum veröffentlicht das Statistische Bundesamt die ersten vorläufigen VGR-Ergebnisse. Der Nowcast 2.0 (Rot) erweist sich etwa 70 Tage vor Beginn des betrachteten Quartals als mindestens genauso „treffsicher“ wie der Nowcast 1.0 (Gelb); ab einem Vorlauf von 40 Tagen ist der Nowcast 2.0 deutlich genauer. Der Prognosefehler des neuen Modells bewegt sich mit etwa 15 Tagen vor Quartalsbeginn auch deutlich früher als der Fehler des alten Modells (6 Tage vor Quartalsbeginn) unterhalb des Fehlers eines sogenannten Random Walk (Grün); dabei handelt es sich um eine wichtige Messlatte für Prognosemodelle.3

Neben einer Überarbeitung der Datenstruktur konnte die Prognosequalität vor allem auch dadurch gesteigert werden, dass jetzt hochfrequente Indikatoren wie Daten zur Lkw-Maut, zum Stromverbrauch, der EZB-Stressindikator und Bestandteile des Wöchentlichen Aktivitätsindex der Bundesbank eingebunden werden.4

Das neue Nowcast-Modell erweitert das bestehende Analyseinstrumentarium im BMWK durch eine noch genauere, automatisierte Prognose, die mit jeder Veröffentlichung eines neuen Datenpunktes aktualisiert wird. Solche rein datengetriebenen, „technischen“ Prognosen können jedoch kein Expertenwissen ersetzen, das für die Erstellung von Konjunkturprognosen unverzichtbar ist. Bei dem Nowcast handelt es sich deshalb nicht um die Prognose des BMWK für das laufende Quartal, sondern um eine zusätzliche, verdichtete Information über die aktuelle Indikatorenlage, die durch weitere Prognosemethoden und durch die Einschätzung von Expertinnen und Experten ergänzt wird. So kann das Nowcast-Modell zum Beispiel Sonderfaktoren wie Streiks, Gesetzesänderungen oder Anpassungen in der Statistik nur schwer erfassen, weshalb die Modellergebnisse in solchen Fällen entsprechend interpretiert werden müssen, um ein möglichst präzises Bild der konjunkturellen Lage zeichnen zu können.

Abbildung 1: Durchschnittlicher Prognosefehler für die Veränderungsrate zum Vorquartal

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KONTAKT:

Referat: IC1 – Beobachtung, Analyse und Projektionen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

schlaglichter@bmwk.bund.de

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1 In der Ökonometrie werden statistische und mathematische Methoden auf ökonomische Fragestellungen angewendet.

2 Siehe auch: „Modelle zur kurzfristigen Konjunkturprognose während der jüngsten Krisen“ in Deutsche Bundesbank, Monatsbericht September 2023, S. 63ff. unter www.bundesbank.de/resource/blob/915920/155f5d60385905b360dfc1a03293d385/mL/2023-09-bip-prognose-data.pdf.

3 Bei einem Random Walk („Irrfahrt“) folgen die Prognosen einer rein zufälligen, „stochastischen“ Bewegung, ohne weitere Informationen zu nutzen. Jedes Modell, das bessere Ergebnisse als dieser Zufallsverlauf liefert, besitzt daher einen Informationsvorsprung.

4 Der wöchentliche Aktivitätsindex (WAI) der Deutschen Bundesbank ist ein Indikator, der die realwirtschaftliche Aktivität in Deutschland möglichst zeitnah messen soll. Vgl. Eraslan, S. und T. Götz (2020): „An unconventional weekly economic activity index for Germany“, Technical Paper der Deutschen Bundesbank, 02/2020. Daten abrufbar unter www.bundesbank.de/wai.