Grafik zum Artikel "Wie lassen sich Erwerbsanreize verbessern? Studie analysiert Reformoptionen für das Transfersystem"

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Der Fachkräftemangel in Deutschland ist inzwischen in vielen Bereichen spürbar. Er senkt das Wachstumspotenzial und verlangsamt strukturelle Anpassungsprozesse – auch die sozialökologische Transformation. Deshalb will die Bundesregierung Erwerbstätigkeit insgesamt attraktiver machen und so das Arbeitsvolumen steigern. Wie im Koalitionsvertrag und in der jüngst verabschiedeten Wachstumsinitiative vereinbart, soll eine Reform der sogenannten Transferentzugsraten hierbei eine wichtige Rolle spielen: Die Höhe von Transferleistungen wie z. B. dem Wohngeld oder dem Bürgergeld hängt unter anderem vom Erwerbseinkommen einer Person ab. Steigt das Einkommen, sinken die Transferleistungen. Die Transferentzugsraten beschreiben, wie schnell diese Leistungen abgeschmolzen werden.

Transferentzugsraten ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Regeln für den Bezug unterschiedlicher Transfers. Eine Rolle spielen dabei neben der Höhe des Erwerbseinkommens auch andere Faktoren wie beispielsweise die Anzahl der Haushaltsmitglieder. Im aktuellen Transfersystem kann es zu sehr hohen Transferentzugsraten von teilweise über 100 Prozent kommen. Das heißt, dass ein Euro zusätzliches Erwerbseinkommen das verfügbare Netto-Haushaltseinkommen nur unwesentlich erhöhen oder sogar leicht verringern kann. Um diese Fehlanreize für eine Arbeitsaufnahme oder -ausweitung systematisch anzugehen, wurde im Koalitionsvertrag eine wissenschaftliche Betrachtung der Transferentzugsraten vereinbart.

Studien aus dem Jahr 2023 setzt Auftrag aus dem Koalitionsvertrag teilweise um

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beauftragte zunächst das ifo Institut (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V.) und das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) mit einer wissenschaftlichen Auswertung. In dieser ersten Studie analysieren die Autoren verschiedene Reformoptionen, die das Transfersystem vereinfachen und zu hohe Entzugsraten vermeiden sollen (Peichl et al., 2023). Es werden Veränderungen von Bürgergeld und Kinderzusatzbetrag betrachtet. Um das Zusammenspiel der Regeln des Transfersystems noch umfassender in den Blick zu nehmen, gab das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) deshalb beim ifo Institut eine weitere, darauf aufbauende Studie in Auftrag, die bei möglichen Reformoptionen auch das Wohngeld einschließt (Blömer et al., 2024).

Aktuelle Studie nimmt zusätzlich das Wohngeld in den Blick

Die Autoren berechnen zunächst die bestehenden Transferentzugsraten für verschiedene Beispielhaushalte und Einkommensbereiche. Für die Auswertung wird als Status quo der Rechtsstand von Juli 2023 angenommen, inklusive der Einführung einer Kindergrundsicherung. Im Bürgergeld liegt der Transferentzug jenseits der ersten 100 Euro, die anrechnungsfrei bleiben, zwischen 70 Prozent und 100 Prozent. Sobald der Haushalt in den parallelen Bezug von Wohngeld und Kinderzusatzbetrag wechselt, existieren Konstellationen, in denen durch den parallelen Entzug dieser Leistungen und nach Berücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen Transferentzugsraten von über 100 Prozent möglich sind. Abbildung 1 zeigt die Transferentzugsrate für Alleinerziehende mit zwei Kindern in Abhängigkeit vom Bruttoeinkommen. Die gestrichelte Linie stellt den Status quo dar: Bis zu einer Grenze von 3.000 Euro liegen die Entzugsraten bei durchschnittlich ungefähr 80 Prozent und variieren stark. Die Grenzbelastung ist damit insgesamt sehr hoch und intransparent. Ein solcher Beispielhaushalt im unteren Einkommensbereich hat daher einen eher geringen Anreiz, ein höheres Erwerbseinkommen zu erzielen. Zu beachten ist, dass dies nur ein Beispielhaushalt ist; je nach Wohnort und Haushaltsgröße können die Transferentzugsraten sogar höher und über breitere Einkommensintervalle ausfallen.

Um mögliche Reformoptionen des Transfersystems zu bewerten, verwenden die Autoren der Studie ein sogenanntes Mikrosimulationsmodell, in welchem auch Verhaltensanpassungen berücksichtigt werden. So wird auf Basis vorhandener Daten geschätzt, wie Haushalte hinsichtlich ihrer Arbeit-Freizeit-Entscheidung auf geänderte Anreizstrukturen reagieren, also ob sie z. B. mehr arbeiten, wenn die Transferentzugsraten sinken. Wichtigste Zielgrößen zur Bewertung der Reformoptionen sind die Ausweitung des Arbeitsangebots, Verteilungseffekte und die Be- bzw. Entlastung des Staatshaushalts, also fiskalische Auswirkungen.

ABBILDUNG 1: TRANSFERENTZUGSRATEN FÜR ALLEINERZIEHENDE MIT ZWEI KINDERN Bild vergrößern

Die ökonomisch präferierte Reformoption würde Wohngeld und Bürgergeld integrieren

Die von den Autoren präferierte Reformoption integriert das Wohngeld in das Bürgergeld und gestaltet gleichzeitig das Bürgergeld großzügiger aus als im Status quo. So würden – für alle Einkommensbereiche und Haushaltstypen – die Erwerbseinkommen im Bürgergeld nur noch zu 65 Prozent angerechnet (durchgezogene Linie in Abbildung 1). Dies würde zu niedrigeren und weniger stark schwankenden Entzugsraten führen. Wie in der Abbildung ersichtlich, wäre die Grenzbelastung des Beispielhaushaltes in diesem Fall bis über 3.000 Euro Bruttoeinkommen konstant, ein zusätzlicher Euro Erwerbseinkommen würde in diesem Einkommensbereich also immer gleich besteuert.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass dieser Vorschlag das Arbeitsangebot um rund 144.000 Vollzeitäquivalente steigern könnte. Insbesondere würden viele Menschen, die derzeit in Teilzeit arbeiten, ihre Arbeitszeit erhöhen. Obwohl durch die Zusammenlegung von Wohngeld und Bürgergeld zusätzlich rund 713.000 Haushalte Transfers beziehen könnten, würde das gesamtstaatliche Budget durch die Reform um rund 0,18 Milliarden Euro entlastet. Das verfügbare Einkommen würde für die meisten Haushaltstypen steigen. Ein weiterer Vorteil einer solchen Reform läge in der erheblichen Vereinfachung des Transfersystems und einem geringeren Verwaltungsaufwand.

Studie ist wichtiger Debattenbeitrag zu grundlegenden Reformoptionen

Insgesamt leistet die Studie einen wichtigen Debattenbeitrag zu möglichen grundlegenden Reformoptionen des Transfersystems. Insbesondere zeigt sie auf, dass allein besser aufeinander abgestimmte Transferleistungen und Anreizregeln das Arbeitsangebot wesentlich steigern könnten. Der Fachkräftemangel könnte so bekämpft werden, ohne die Staatsausgaben erhöhen zu müssen

KONTAKT & MEHR ZUM THEMA

Referat: IA3 – Wirtschaftspolitische Fragen des Arbeitsmarktes und der Sozialordnung

schlaglichter@bmwk.bund.de

Referenzen

Blömer, Maximilian; Hansen, Emanuel; Peichl, Andreas. Die Ausgestaltung des Transferentzugs in der Interdependenz mit dem Bürgergeld, der Kindergrundsicherung und dem Wohngeld (Forschungsbericht 145-2024, ifo Institut) – Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. https://www.ifo.de/DocDL/ifo_Forschungsbericht_145_Transferentzug.pdf

Peichl, Andreas, et al. (2023). Zur Reform der Transferentzugs- raten und Verbesserung der Erwerbsanreize (Forschungsbericht Nr. 629, Bundesministerium für Arbeit und Soziales). https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Forschungsberichte/fb-629-erwerbstaetigenfreibetraege.pdf?__blob=publicationFile&v=1